Herbstlaub

„Und auf den Feldern lass die Winde los", lässt Rainer Maria Rilke einen Gedanken zum Herbst enden. Weniger lyrisch, dafür äußerst praktisch nutzte jener alte Mann den Wind, dem Christine auf einem Ausflug vor dessen Hütte begegnete. Wind, Mann und Hütte begegnete Christine allerdings nicht im Uelzener Herbst, sondern im brasilianischen Dschungel bei Manaus, in dem gleichzeitig zum hiesigen Herbst Sommer ist. So ist Christine nun mal, dass sie statt des Damenkulturprogrammes auf meinem Kongress freiwillig den Urwald bevorzugt. „Du kaufst Dir zuhause keine Maschine für Herbstlaub und Schneeräumen," bestimmte sie, als sie von der Exkursion in den Urwald des Rio Negro zurückkehrte. „Wir machen das organischer mit dem Laub. Wir nutzen die Windkraft, um das Laub wegzukriegen." Und dies hatte Christine gesehen: Eigentlich wollte ihre kleine Reisegruppe vor der Hütte des Indios kurze Rast machen und Kaltes trinken gegen die 40 Grad im Schatten. Vom Verkauf der Getränkedosen lebten der Indio und seine Frau. Eben da erhob sich mit dem täglichen Gewitter ein Sturmwind, welcher den Sand und die zahllosen Laubhügel durcheinander wirbelte. Während die kleine Reisegruppe in die einräumige Hütte floh, holte sich der alte Mann einen hartborstigen Besen und eilte mit diesem in die andere Richtung. Zurück nach draußen in den Sturm. Dort nun kehrte er vor den Augen der verdutzten Touristen sein Laub mit einem bestimmten Schwung gegen und damit in den Wind und dieser machte den Rest allein: Der Wind riss die hochgekehrten Laubblätterhügel empor, spielte mit den Blättern in der Luft so lange, bis sie sich in kleinen Laubwolken nach oben schaukelten und über die Uferlinie der kleinen Flussinsel über den vom Sturm aufgewühlten Wassermassen des Rio Negro verloren. Nach wenigen Minuten Laubkehrens im Sturmwind war das ganze kleine Hofgelände um die Hütte blank wie nur ein Babypopo sein kann. Oder der Vorgarten eines vorschriftsmäßigen Uelzener Kleingartens. Oder ein sauber vom Laub befreiter Inselstrand im Urwald. „Und auf den Feldern lass die Winde los...." Ob Rilke das meinte, was Christine da gesehen hatte? In jedem Fall werde ich morgen zu Palischs und Bückens und Cirkels gehen, unseren unmittelbaren Nachbarn. Und vorwarnen vor dem nächsten Herbststurm. Genauer: Ich werde sie vor Christine warnen, wenn diese im nächsten Sturm stehen und den Kehrbesen schwingen wird. Um das Spätherbstlaub gegen und in den Wind zu kehren. Unser Laub wird dann bei den Nachbarn sein und deren Problem. Aber vielleicht lassen sie Christine noch ein wenig die Begeisterung über das, was sie bei dem alten Indianer gelernt hat. Zugunsten der Herbstlaubbewältigung im Kreise Uelzen... wo nach einem großen Sommer nun auf den Sonnenuhren die Schatten liegen (um Rilkes wunderschönen Anfangsgedanken zum oben erwähnten Zitat hier schließen zu lassen).

14. November 1995